Saturday, December 16, 2006

From our German language editions: Eis essen und Energie sparen

SPIEGEL ONLINE - 04. Dezember 2006, 06:19
URL: http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,452019,00.html
ALLTAG IN MASSACHUSETTS

Eis essen und Energie sparen

New York, Grand Canyon, Kalifornien - diese Höhepunkte bestimmen häufig
das touristische Bild der USA. Dabei kann der ganz normale
amerikanische Alltag viel spannender sein. Henryk M. Broder war auf
Spurensuche in Lexington, Massachusetts.

Helen Epstein und Patrick Mehr sind typische Amerikaner. Sie wurde 1947
in Prag geboren und kam mit ihren Eltern, zwei Holocaust-Überlebenden,
ein Jahr später in die USA. Auch in New York wurde bei den Epsteins zu
Hause weiter Tschechisch gesprochen. Er wurde 1954 in Paris geboren,
als Sohn rumänischer Juden, die nach Frankreich emigriert waren.
Patrick besuchte die Eliteschule Ecole Polytechnique und würde heute
noch im Industrieministerium arbeiten, wenn er 1981 nicht Helen bei
einem Single-Treffen in Davos kennengelernt hätte.

Lexington: Ganz normale Amerikaner

Ein Jahr darauf brach er seine Zelte in Paris ab und zog nach Boston.
Heute leben Helen und Patrick in Lexington im Bundesstaat
Massachusetts, der "Wiege der amerikanischen Revolution", wo alles am
18. April 1775 begann, als Paul Revere aus Boston angeritten kam, um
Sam Adams, John Hancock und die übrigen Kolonisten vor den anrückenden
britischen Truppen zu warnen. "Paul Revere's Ride" von Henry Longfellow
ist das Hohelied der Revolution, das amerikanische Kinder schon
aufsagen können, noch bevor sie Lesen und Schreiben gelernt haben.

Wenn es so etwas wie einen spirituellen Kern der USA gibt, dann ist es
das kleine Lexington bei Boston mit seinen knapp 33.000 Einwohnern, wo
jedes Jahr am dritten Montag im April der "Patriot's Day" gefeiert und
das Gefecht von "Battle Green" als Spektakel reanimiert wird. Noch in
den fünfziger Jahren war Lexington eine typische WASP-Town, bewohnt von
weißen angelsächsischen Protestanten und einigen jüdischen Familien.
Heute kommt ein Viertel der Einwohner aus Asien: Es sind Japaner,
Chinesen, Inder und Pakistaner.

Viel mehr als nur eine Eisdiele

Aber Helen und Patrick sind nicht wegen der Geschichte nach Lexington
gezogen, sondern weil die Stadt für ihre guten "Public Schools" bekannt
ist. Inzwischen haben ihre beiden Söhne, Sam und Daniel, die High
School beendet und kommen nur noch in den Semesterferien nach Hause.
Also haben Helen und Patrick viel Zeit für andere Aktivitäten. Helen,
die schon Ende der siebziger Jahre mit ihrem ersten Buch ("The Children
of the Holocaust") bekannt wurde, schreibt jetzt Kurzgeschichten für
amazon.com. Ihr erster Text heißt "Ice Cream Man" ("Eisverkäufer") und
steht seit vier Wochen online.

Es ist die Geschichte von Gus Rancatore, der vor genau 25 Jahren eine
Eisdiele in Cambridge aufgemacht hat: "Toscanini's". Gus, Jahrgang
1950, ist ebenso ein typischer Amerikaner wie Helen und Patrick,
vielleicht einen Tick mehr: Seine Großeltern kamen Ende des 19.
Jahrhunderts nach Amerika, er wurde in Staten Island/New York geboren
und wuchs in New Jersey auf, wo er eine katholische Klosterschule
besuchte. Heute ist "Toscanini's" mehr als eine Eisdiele, es ist eine
Institution, weil Gus eine "kulturelle Agenda" hat.

Bot er anfangs ein Dutzend klassische Eissorten an, sind es heute mehr
als 400, darunter viele "Exoten", die man sonst nur in Asien bekommt,
wie das "Fünf-Gewürze-Eis". Denn "Toscanini's" liegt auf halbem Wege
zwischen Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT),
und viele Studenten der beiden Elite-Hochschulen kommen aus Asien.

Gus selbst hat auch einen multikulturellen Migrationshintergrund. Die
Mutter ist irisch, der Vater italienisch. Wären nicht beide zufällig
katholisch gewesen, hätten sie nur wenig gemeinsam gehabt. In der
Familie gab es täglich einen regelrechten Kulturkampf, über das Essen
auf dem Tisch, die Musik im Radio und die Frage, wie man die Kinder
erzieht.

An der Basis der amerikanischen Demokratie

Gus' Vater Joe heute 84-jährig, ist ein wenig schwerhörig, aber wenn er
sich mit einer jüngeren Frau unterhält, versteht er jedes Wort. Er hat
noch vor ein paar Jahren gearbeitet, zuletzt managte er eine kleine
Kleiderfabrik mit 75 Mitarbeitern. "I was always in the rag business",
sagt er mit einem breiten Grinsen, denn "rag" bedeutet so viel wie
"Lumpen". Auch seine fünf Kinder sind alle etwas geworden. Gus, Joe und
Mimi machen in Eiscreme, Diane ist Bibliothekarin und Conny im
Finanzgeschäft. "Wir lieben es zu arbeiten", sagt Conny, "Arbeit ist
unsere Leidenschaft."

Den 25. Geburtstag von "Toscanini's" feiern sie mit ihren Freunden und
Unmengen von Ice Cream. An der Wand hängt ein Ausdruck der
amazon-Geschichte von Helen Epstein. Für Gus ist das so etwas wie eine
späte Promotion. "Well done, Gus", sagen seine Freunde, "we love you!"
Während Helen eine Eissorte nach der anderen ausprobiert, macht sich
Patrick auf den Weg zu einem Town Meeting, einer Kommunalversammlung in
der Cary-Hall. Städte wie Boston haben einen Stadtrat und einen
Bürgermeister, Orte wie Lexington eine Versammlung und anstelle eines
hauptamtlichen Bürgermeisters fünf "Selectmen", die gemeinsam und
ehrenamtlich die Gemeinde führen, dazu Komitees für Finanzen, Schulen,
Feste, Sozialwesen usw. In den Kleinstädten ist der Anteil der Bürger,
die aktiv an der Politik teilnehmen, viel höher als in den großen
Metropolen. Wenn man erleben will, wie die amerikanische Demokratie an
der Basis funktioniert, muss man nur ein Town Meeting besuchen.

Patrick ist einer von 189 Town Meeting Members, er wurde schon zweimal
in die Versammlung gewählt. Sein Spezialgebiet ist Energie und die
Frage, wie man Kosten für Energie reduzieren könnte. Er fährt, ebenso
wie Helen, einen Toyota Prius, das erste serienmäßige Auto mit
Hybrid-Antrieb. Ginge es nach ihm, würden Autos wie der Hummer verboten
oder mit extrem hohen Steuern belegt.

Er macht einfach weiter

Energie steht nicht auf der Tagesordnung der Versammlung, es geht vor
allem um eine Erhöhung des Schulbudgets im laufenden Jahr von
62.346.492 Dollar auf 63.419.500 Dollar. Bevor die Versammlung die
Erhöhung um über einer Million Dollar, die vom Finanzkomitee
beschlossen wurde, genehmigt, möchten die Mitglieder der Versammlung
wissen, wofür das Geld ausgegeben werden soll. Tom Diaz, der
Vorsitzende des Schulkomitees, erklärt, wie es zu der Situation
gekommen ist und warum sie im Frühjahr, als das Budget beschlossen
wurde, nicht absehbar war. Es geht sehr gesittet zu in der Versammlung,
nur wem "Madame Moderator" das Wort erteilt hat, darf etwas sagen.

Patrick hat eine Frage und stellt sich hinter das Mikrofon im
Mittelgang. "Mr. Mehr, please", sagt die Moderatorin. "Thank you, Madam
Moderator", sagt Patrick. Er möchte wissen, warum das Schul- und das
Finanzkomitee den Schuletat erhöhen wollen, statt die Energiekosten
durch entsprechende Umbauten der Gebäude zu senken, was kurzfristig die
Ausgaben zwar erhöhen, sie aber langfristig reduzieren würde. "Mr.
Mehr, das ist nicht unser Thema!" erwidert Madame Moderator, ohne zu
warten, bis Patrick seine Frage beendet hat.

Er setzt nur kurz aus - und wiederholt seine Frage.

"Mr. Mehr, ich habe eben gesagt, Energie ist nicht unser Thema!" ruft
Madame Moderator, schon erheblich lauter.

Patrick macht einfach weiter.

"Mr. Mehr, ich rufe Sie zur Ordnung!" Nach dem dritten Ordnungsruf gibt
Patrick auf. Zehn Minuten später wird die "Etatanpassung" von der
Versammlung mit großer Mehrheit angenommen. Die dafür sind, rufen
"aye!", die dagegen sind, "no!" Es kommt nur selten vor, dass einzeln
abgestimmt werden muss.

Am späten Abend treffen sich Helen und Patrick wieder zu Hause. Wie war
deine Versammlung? fragt Helen. "Really exciting", sagt Patrick,
"ziemlich aufregend". "Meine auch", sagt Helen, "das Eis war
großartig."


Zum Thema in SPIEGEL ONLINE:
Henryk M. Broder: Reisetagebuch US- Ostküste
http://www.spiegel.de/reise/0,1518,k- 7022,00.html
Straßenkünstler in Cambridge: Mit Puppen gegen Uncle Scam (28.11.2006)
http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,451179,00.html

Diner in Cambridge: "Champagner und Hummerschwänze, bitte!"
(27.11.2006)
http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,450865,00.html

Reisespeisen: Austern auf ex (16.11.2006)
http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,448858,00.html

Zum Thema im Internet:
Text "Ice Cream Man"
http://www.amazon.com/Ice- Cream- Man- Years-
Toscaninis/dp/B000JLTS8U/sr=11- 1/qid=1164840111/ref=sr_11_1/002-
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